Mittwoch, 11. November 2015

Meine Mutter war eine gute Mutter...bis sie krank wurde.....

Ich habe in den letzten Jahren viel, sehr viel über meine Eltern, meine Familie, meine Geschwister nachgedacht. Viel, sehr viel ist in den letzten Jahren passiert. Ich will für mich Klarheit...ich will wissen, warum geschah etwas...alles..auch in unserem Leben, hat Ursache und Wirkung...

Beide Eltern, Vater und Mutter, hatten eine schwere, entbehrungsreiche, harte Kindheit. Beide wurden sie in der Zeit des Nationalsozialismus geboren, mein Vater 1933 in Schlesien, meine Mutter 1936 in Essen. Beide Eltern wurden ohne Vater groß, meine Mutter verlor ihren Vater in den letzten Kriegstagen 1945, er fiel als Soldat an der Front. Mein Vater verlor seinen Vater, da sich seine Mutter von dem Vater aufgrund von Alkoholproblemen des Vaters trennte. Der Vater meines Vater starb Anfang der 1960er Jahre als sogenannter "Tippelbruder" auf der Straße.

Beide Eltern hatten in der Folge eine starke Bindung zu ihren Müttern. Im Unterschied zu meinem Vater hatte meine Mutter aber keine positive Bindung zu ihrer Mutter, sie wurde von ihrer Mutter ausgenutzt, selbst als meine Mutter in der Lehre war, nahm ihr ihre Mutter ihr Lehrgeld ab...auch später noch als meine Mutter ausgebildete Verkäuferin war....das endete erst..als mein Vater meine Mutter kennen lernte und die beiden zusammen zogen, nach dem sie geheiratet hatten.

Zudem ist meine Mutter in jungen Jahren von einem jungen Mann überfallen worden und vergewaltigt worden....dies erzählte sie mir in der Zeit nach dem Tode meines Vaters und ihrem eigenen Tod. Sie konnte nur schlimmeren entgehen, weil sie schrie und deshalb der Vergewaltiger von meiner Mutter abließ. Auch das muss traumatisch für meine Mutter gewesen sein, eine Kindheit im Krieg, eine Mutter, die sehr egoistisch war...und ihre Tochter ausnutze, einen Vater, den es nur kurz gab, weil er 1945 fiel.....dazu Entbehrung und Armut......

Für mich....so erinnere ich mich an meine Mutter besonders in sehr jungen Jahren..war sie eine zarte, sehr schüchterne, aber sehr liebe, verzeihende, mitfühlende, zarte Mutter...dazu lebenslustig..mit einem sehr angenehmen, erfrischenden Lachen....

Ich sehe meine Mutter vor mir, wie sie, gertenschlank, leicht wie eine Feder, im Frühjahr und im Sommer zum einkaufen ging..auf ihren Stöckelschuhen....sie war trotz der harten Kindheit und Jugend so unverdorben, so lieb, so naiv....so bescheiden....wenn ich mir vor Augen führe..wie wenig sie aber auch mein Vater sich in ihrem Leben gegönnt haben..verglichen vor allem mit den Ansprüchen heutiger junger Menschen....waren beide sehr bescheidene brave Menschen.

Mein Vater, in Schlesien zur Welt gekommen und dort bis 1945/46 aufgewachsen, verlor seine Heimat durch Vertreibung und Flucht....über Friedland, später Niedersachsen..landete er 1955 in Essen, wo seine ältere Schwester Christa als Zimmermädchen in Bredeney tätig war und ihrem Bruder geraten hatte, auch nach Essen zu kommen.
Die Mutter meines Vaters lebte zu dieser Zeit in Koblenz bei ihrer ältesten Tochter Elisabeth.

Vater und Mutter 1962....es ist deutlich zu sehen..wie zart und schlank beide waren....hat meine Mutter nicht ein liebes Gesicht?




Das Schicksal meiner Eltern teilten viele Kinder, die im Krieg in der Zeit von 1939 bis 1945 aufwuchsen....viele von ihnen waren sicher traumatisiert, wie meine Eltern auch....zudem gab es Niemanden, der Ihnen half, dieses Trauma aufzuarbeiten. Heute würden wir Kinder wie meine Eltern es damals waren, die ähnliches erlebt haben, in eine Psychotherapie schicken, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Traumatas aufzuarbeiten..um Schaden von den Kindern zu nehmen und um zu verhindern, dass der Schaden in ihrer Seele nicht noch anderen Menschen Schaden zufügt....

Ich werde an diesem Text weiterarbeiten....weil ich für mich spüre..das es mir gut tut..viele schöne Erinnerungen und Gefühle waren durch die Jahrzehnte in Vergessenheit geraten, wurden überlagert von der Bitterkeit des Alltags, auch des Alltags meiner Eltern, meiner Familie....jetzt wo beide verstorben sind....durch die Trauer, durch den Schmerz..durch meine Tränen...durch Gespräche..durch meine Therapie....löst sich alles....und ich beginne..Geschehenes aufzuarbeiten..mir zu erklären..um damit leben zu können..weiter leben zu können..in Einklang mit mir..ohne Trauer, ohne Schmerz..befreit davon..nicht durch verdrängen..sondern durch bewußt machen..durch aufarbeiten des Erlebten....so habe ich es seit meiner Genesung von der Sucht gemacht..sonst wäre ich nie so lange trocken geblieben....ich kann auf Dauer nicht verdrängen und dann seelisch gesund bleiben wollen..das geht nicht..Lügen..Selbstbetrug machen krank....das weiß ich....

Ich will die schönen Seiten meiner Kindheit sehen, wieder sehen lernen...


Leider wurde in meiner Familie wenig über Gefühle geredet, auch nicht über Vergangenes...in der Folge habe ich sehr wenig über die Kindheit und Jugend meiner Eltern gewusst..erst in den letzten Lebensjahren von Ihnen habe ich angefangen zu fragen..wollte mehr wissen....auch um meine Eltern besser kennen zu lernen..um zu ergründen....was ihre prägenden Erfahrungen waren....die letztlich Grundlage ihres Denkens und Handels geworden sind....


Für meinen Vater war die Vertreibung ein einschneidendes Erlebnis...sein Zuhause zu verlieren, die Demütigungen seiner Eltern und seiner Geschwister, die Angst, die Not, der Hunger, die Verzweiflung, die Entwurzelung....
Während der Flucht wurden die Trecks von Flugzeugen angegriffen, es gab Tote und Verletzte...mein Vater erzählte mir..das er frühmorgens nach dem Aufwachen auch erfrorene Menschen gesehen hatte, die von Ratten angefressen worden waren....

Auch nach dem mein Vater und seine Mutter das Auffanglager in Friedberg verlassen hatten und nach Niedersachsen, nach Dransfeld......wo mein Vater zunächst als Waldarbeiter tätig war....er musste früh morgens..ohne etwas gegessen zu haben..Kilometer laufen um zu seinem Arbeitsplatz im Wald zu gelangen und nach stundenlanger Arbeit abends zurück laufen...später hat mein Vater als Melker gearbeitet...wie er mir erzählte...die Einheimischen waren auf die "vertriebenen Mitesser" nicht gut zu sprechen....mein Vater und seine Mutter erlebten also zum zweiten mal Demütigung und Diskriminierung. Dies hat tiefe Wunden in der Seele meines Vaters hinterlassen, auch der Hunger, die Armut...waren prägend....das führte dazu...das später in unserer Familie kein Essen weggeworfen wurde, selbst angeschimmeltes Brot und/ oder andere Lebensmittel nicht..der sichtbare Schimmel wurde entfernt und der Rest musste gegessen werden..das galt auch für das Essen, was auf dem Tisch stand, selbst wenn wir es nicht mochten und/ oder satt waren, wir wurden unter Androhung und auch bei Nichtbefolgen mit Gewalt gezwungen, unter Tränen, unseren Teller leer zu machen...Es wurden  viele Tränen vergossen, auch meine Mutter weinte, die flehte meinen Vater an, nicht so hart zu uns zu sein. Es half nichts. Meine Geschwister und auch ich aßen, würgten uns das Essen hinein..um uns später auf der Toilette zu erbrechen....
Auch wenn ich als Kind Dummheiten gemacht hatte, was kaputt gemacht hatte oder es Ärger mit den Nachbarn gab, reagierte mein Vater sehr hart..mit Gewalt...er schlug mich mit einem Gummischlauch....der in der Küche über dem Ofen lag..oder mit der flachen Hand..mit Kleiderbügeln..bis sie zerbrachen...es gab Stubenarrest, Taschengeldentzug, manchmal musste man ohne Abendbrot ins Bett..usw....Die Strafen waren drakonisch und meine damals in den 1960er Jahren noch zarte und gesunde Mutter litt sehr unter dieser Härte..vielleicht sogar mein Vater unter seiner Härte..obwohl er bis kurz vor seinem Tod sehr hart und unnachgiebig war...eine meiner Schwester lag kurz vor dem Tode meines Vaters im Krankenhaus wegen einer Lebertransplantation...eine lebensbedrohliche Operation...ich berichtete meinen Eltern davon...weil meine Eltern nach einem Streit mit dieser Schwester keinen Kontakt mehr zu ihr wollten...meine Mutter wollte meine Schwester im Krankenhaus besuchen, mein Vater aber sagte.."ich fahre da nicht hin, sie ist für mich gestorben...."

Meine Mutter war eine weiche, sensible, zarte Frau..lebenslustig, naiv, voll auf meinen Vater fixiert, der das auch so wollte, und sie wurde mit zunehmendem Alter meinem Vater immer ähnlicher...

Mein Vater war nicht nur hart...aber er war insgesamt unnachgiebiger...unversöhnlicher...nachtragender....ich habe auch schöne Stunden mit ihm verbracht...als Kind vorwiegend....und später..nach dem ich aus meiner Suchtmittelabhängigkeit ausgestiegen war....aber auch dann durften bestimmte Themen nicht angesprochen werden...schon zeigte sich seine Härte....


Mutter in ihrem Garten am Samstag, den 22.05.2010 um 14:06 Uhr.

Mutter in meiner damals neuen Wohnung am 16.01.2011


Zwei Fotografien meiner Mutter aus dem Jahren 2010 und 2011. Wer hätte seinerzeit gedacht, dass sie nur noch so kurze Zeit unter uns weilt....am 25.01.2013 ist sie verstorben...

Was mich bis heute ärgert...vor Jahren noch wütend gemacht hat..jetzt nicht mehr...ist der Umstand....dass über meine Mutter so hart gerichtet wurde...bis zu ihrem Tod und darüber hinaus....von Menschen..die selbst mit ihrem Leben, ihren Beziehungen nicht klar kommen und zum Teil noch grün hinter den Ohren sind aber eine "große" Fresse haben....und die im Unterschied zu meinen Eltern nicht mal einen Bruchteil dessen in ihrem Leben erlebt haben..was meine Eltern erlebt haben....